Die erhängten Kinder vom Bullenhuser Damm

Die wenig bekannte Geschichte eines grauenvollen Endphaseverbrechens der Nazis im April 1945 an 20 jüdischen Kindern in Hamburg

Von Giuseppe Gracia

Am Ende des Zweiten Weltkriegs, vor 75 Jahren, ermordete ein SS-Kommando in einer Hamburger Schule 20 Kinder. Es ging darum, grausame Versuche an Menschen zu vertuschen. Die Kinder, die davon wussten, sollten niemandem davon erzählen, also hat man sie im Keller erhängt, eines nach dem anderen. Die beiden jüngsten waren fünf Jahre alt. Die Morde fanden 1945 in der Schule am Bullenhuser Damm statt, in der Nacht vom 20. auf den 21. April. Überlebt haben zwei Mädchen: Tatiana Bucci und ihre zwei Jahre jüngere Schwester Andra.

Heute sind die beiden über 80 Jahre alt. Im soeben erschienen Buch «Wir, Mädchen in Auschwitz» (Nagel & Kimche) erzählen sie von ihrem Leben. Erzählen von der Deportation 1944 nach Auschwitz-Birkenau, von Kälte und Hunger, erzählen vom Spielen im Schlamm, von den vielen toten Körpern und dem ständig rauchenden Kamin. Sergio, der Cousin der beiden Mädchen, war im selben Kinderblock untergebracht und wurde später ins KZ Neuengamme bei Hamburg geschickt.

«Wer von euch will die Mama wiedersehen?» – im Buch erinnert sich Tatiana Bucci, dass den Kindern in den Lagern diese Frage gestellt wurde. Sie selber hat nicht auf die Frage reagiert, denn sie wurde, genau wie die kleine Schwester Andra, von der Blockowa aus der Frauenbaracke gewarnt: Auf keinen Fall dürften sie sich melden, wenn sie gefragt würden, ob sie ihre Mama wiedersehen wollen! Die Aufseherin schärfte ihnen das ein. Die Mädchen haben auch ihren Cousin Sergio gewarnt, doch ohne Erfolg. Zu stark war der Impuls, zu groß die Sehnsucht nach der Mutter. Sergio ist eines der zwanzig erhängten Kinder vom Bullenhuser Damm.

Berichte wie diese sind nicht nur ein Zeugnis für die Schrecken der Nazis, sondern heute leider wieder dringend nötig. Der Antisemitismus nimmt überall in Europa zu. Nicht nur in der Neonazi-Szene oder durch völkisch argumentierende Politiker. Sondern auch durch linke und grüne Politiker, die ihre antijüdischen Ansichten unter dem Deckmantel der Israelkritik verbreiten. Dabei kritisieren sie Israel für Dinge, die sie bei anderen Staaten durchgehen lassen. Sie messen mit zweierlei Maß, ähnlich wie die UNO, die jedes Jahr mehr Resolutionen gegen Israel als gegen alle anderen Länder veröffentlicht, inklusive Hamas, China, Nordkorea, Syrien, Russland, Iran und Saudi-Arabien.

 

Wer hat Angst vor israelischen Atomwaffen?

Der Schweizer Gegenwartsphilosoph Michael Rüegg verteidigt in seinem Buch «Krise der Freiheit» (Schwabe Verlag, 2016) Israel und hält in einem Interview fest: Israel ist der einzige Rechtsstaat im Nahen Osten, in dem Juden, Muslime, Christen und Atheisten die gleichen Rechte genießen. Israel besitzt mehr als 200 Atomsprengköpfe, in Reichweite von Europa. Trotzdem hat niemand in Europa Angst vor diesen Bomben, denn niemand fürchtet, dass Israel Europa angreift, nicht einmal jene, die Israel als Apartheidstaat diffamieren. Man stelle sich vor, Ägypten, Syrien, Iran oder die Hamas verfügten über eine vergleichbare militärische Potenz. Wer in Europa könnte noch schlafen?

Trotz solcher Überlegungen wird an Israel oft kein gutes Haar gelassen. Es gibt ungefähr 220 Länder auf der Welt, davon rund 52 muslimische und 24 arabische Staaten. Aber es gibt nur einen jüdischen Staat, kleiner als die anderen, etwa von der Größe New Jerseys. Von allen Ländern der Welt isolieren viele westliche Politiker oder bekannte Kulturschaffende immer nur Israel für ihre Ablehnung.

Natürlich spielt auch der Antisemitismus in muslimischen Ländern eine Rolle, denn mit der Migration kommt er vermehrt nach Europa und mischt sich mit rechter und linker Judenfeindlichkeit. Viele westliche Medien müssen diese Feindlichkeit mitverantworten, aufgrund ihrer einseitigen Israel-Berichterstattung. Es wäre also an der Zeit, dass wir uns als Kinder des Westens neu bewusst machen: das heutige Europa ist entstanden aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom. Wir stehen auf dem geistig-moralischen Boden von Judentum, Christentum, griechischer Philosophie und römischem Recht. Wenn wir uns gegen die Juden wenden, wenden wir uns gegen die eigenen Wurzeln. Oder mit den Worten des Philosophen Friedrich Engels (1820 - 1895): «Wir verdanken den Juden viel zu viel (.... ) Der Antisemitismus ist das Merkzeichen einer zurückgebliebenen Kultur.»

 

Giuseppe Gracia (52) ist Schriftsteller und Medienbeauftragter des Bistums Chur. Am 22. Juni erscheint im Fontis-Verlag sein neuer Roman «Der letzte Feind».

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